Teil 1: Palliation – die letzte Ummantelung

Als Medizinstudentin verbrachte ich einen Monat auf der Palliativstation.

Ich begann Geschichten zu schreiben. Über all die Momente, die ich dort erlebte. Aber vor allem über die Menschen, die ich dort kennenlernen durfte.

Ein Zwinkern 

Frau H., eine sehr gebrechliche Dame über neunzig, und ich begegneten uns bereits in der ersten Praktikumswoche auf Station. Ihren Tumor konnte man mittlerweile auch in der Halswirbelsäule wieder finden. Er hatte sich buchstäblich auf den Weg gemacht und geisterte in ihrem Körper umher. Das Waschen und Lagern bereitete ihr Schmerzen und kostete große Anstrengung. Eines Morgens brachte ich der Dame ihr Frühstück. Das Brot zerkleinerte ich und half ihr beim Trinken. Als sie nichts mehr zu sich nehmen wollte machte ich mich mit dem Tablett auf den Weg in die Stationsküche. Bevor ich die Zimmertür hinter mir schloss, drehte ich mich erneut um und zwinkerte ihr zu. Sie lächelte seit unserem Kontakt das erste Mal. Einige Stunden später erwachte sie und zwinkerte mich an und verabschiedete mich mit einem „Tschüss, meine Blume.“ 

Sie übernahm mein Zwinkern und wir kommunizierten so nun Tag für Tag. Nachdem ich an einem der Vormittage ihre tägliche Körperpflege übernahm, blickte sie mich an und sagte: „Ich vertraue Ihnen. Sie sind wie eine kleine Tochter. Können Sie nicht einfach hier bleiben?“ Ich nahm mir Zeit für sie wann ich es konnte und das spürte sie. Frau H.s Persönlichkeit wurde bereits eingekesselt von der Demenz, die das alltägliche Dasein und die Interaktionen mit anderen stark erschwerten. Ihr ganzer Rücken war bereits wund gelegen und die Wirbelkörper bahnten sich den Weg durch das Gewebe nach außen durch die hauchdünne, trockene Haut. Eines nachmittags schaltete ich klassische Musik für sie an. Sie blickte zu mir hinüber und zwinkerte.

Das war das letzte Mal, dass wir uns zuzwinkerten.

Am nächsten Tag teilte man mir mit, dass sie in der Nacht verstorben sei.

Die Blumenfrau verwelkte.

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